Über den Heiligen Franziskus erzählt man sich viele Legenden. Eine davon beschreibt das Schicksal eines Wolfes, der in der Nähe der italienischen Stadt Gubbio regelmäßig einzelne Schafe und Ziegen der Bauern riss, um sich zu ernähren. Die Menschen hatten große Angst, dass auch sie bald zur Beute des gewaltigen Tieres werden könnten und verließen daher kaum noch ihre Stadt. Als Franziskus davon hörte, ging er voller Vertrauen auf Gottes Geleit hinaus in die Wälder und traf dort alsbald auf den Wolf. Leise und freundlich begann Franziskus nun mit dem Tier zu sprechen. Der Wolf, von seinem Rudel verstoßen und damit ohne Revier unfähig zur Jagd, führte einen harten Überlebenskampf. Nur in der Nähe der Stadt, wo er von der menschlichen Nahrung räubern konnte, hatte er eine Chance, dem Hungertod zu entkommen. Franziskus erzählte dem Wolf von der Angst der Menschen, welche sie zu Gefangenen in ihrer eigenen Stadt machte. So hatte der Wolf schließlich Mitleid und ließ sich auf den Vorschlag des Franziskus ein: „Wenn du versprichst, keinem Menschen etwas zu Leide zu tun, werden sie dich füttern, solange du lebst.“ Noch zwei volle Jahre weilte so der Wolf in der Stadt Gubbio mitten unter den Menschen und beide hatten ihr Versprechen gehalten. Noch lange nach seinem Tod erinnerten sich die Menschen gerne an das friedliche Zusammenleben mit dem Tier in ihrer Mitte.
Trotz aller Faszination exotischer Tierarten, wie sie uns in Zoos oder Fernsehsendungen am Nachmittag begegnen und leider auch immer häufiger in Zoogeschäften unserer Einkaufszentren, sind unsere Vorbehalte gegenüber den Tieren nicht verflogen. Die so genannten wilden unter ihnen wie die Wolfsrudel im Bayrischen Wald oder der Bär Bruno empfinden wir immer noch als Gefahr und tatsächlich passen sie nicht mehr in unsere zivilisierte Welt. Denn wir, die Menschen, haben uns als „Krone der Schöpfung“ mit unseren technischen Errungenschaften bereits so weit von der Natur entfernt, dass diese keinen Platz mehr zu finden scheint. Außerdem haben wir schließlich andere Probleme wie zum Beispiel die Weltwirtschaftskrise, wachsende Arbeitslosigkeit, Klimaerwärmung und so weiter. Tierische Looser wie der Wolf von Gubbio oder Bruno stören da nur und sollen einfach verschwinden.
Dabei zeigt die Legende des Franziskus, welche Chancen darin liegen, die Schöpfung, wir können sie auch Umwelt oder Natur nennen, als sinnvolles Ganzes zu sehen, in der jeder und jede seinen spezifischen Platz hat, nicht nur wir Menschen, sondern auch die Tiere. Bei unseren Haustieren wird es besonders deutlich, wie Mensch und Tier einander die Lebensqualität verbessern. Tiere bereichern unser Leben, machen uns geistig und körperlich mobiler, gesünder und glücklicher. Wo Menschen liebevoll und artgerecht mit „ihren“ Tieren umgehen, können auch sie ein würdiges Leben führen und uns all ihre Liebe und Treue schenken, die wir in unserem tiefsten Inneren doch so nötig brauchen.
Mehr noch: Tiere begegnen uns Menschen zunächst ohne jedes Vorurteil. Sie achten nicht auf Kleidung, gesellschaftliches Ansehen oder unsere Leistungen und beurteilen uns somit nicht. Vielmehr akzeptieren sie uns als Mensch an sich. Sie achten unsere Würde, respektieren uns. Und irgendwie haben sie ein feines Gespür dafür, welche Bedürfnisse wir haben, was unsere Seele braucht.
Diese wunderbare Gabe der Tiere haben wir an unserer Schule als ein besonderes Geschenk entdeckt, das wir unseren Schülerinnen und Schülern in zwei besonderen tierpädagogischen Projekten weitergeben möchten. Vor den Sommerferien werden wir Schulseelsorgerinnen daher mit eine Gruppe Jugendlicher in die Rhön fahren und drei Tage gemeinsam mit Pferden leben und uns im Sinne des „natural horsemanship“ von ihnen zeigen lassen, wie Mensch und Tier auf eine gute Weise miteinander kommunizieren können.
Zudem besucht seit den Osterferien die Schulhündin Leyla regelmäßig meinen Unterricht und begleitet mich bei Beratungen. Schon als Welpe versteht sie es auf unglaubliche Weise, den Kindern durch ihre freundliche Art den Tag zu erhellen. Im Umgang mit ihr entdecken viele wieder den Zugang zu ihrer eigenen Verspieltheit, Zärtlichkeit und Fürsorge. Sie ist so schon nach wenigen Wochen zu einer Bereicherung unseres Schulalltags geworden; genau wie der Wolf den Bewohnern von Gubbio.
Ihre Dagmar Steinmetz
Pastoralreferentin und Schulseelsorgerin an der Adolf-Reichwein-Gesamtschule, Neu-Anspach
Diese Sonntagsbetrachtung erschien am 16. Mai 2009 im Usinger Anzeiger.